Bericht

Eine gesangspädagogische Sensation

Über die von Jean Nadolowitsch im Jahre 1927 in Wien gehaltenen Vorträge von Hofrat Karl Rössel-Maydan, Professor an der Akademie für Musik in Wien

Die fortschreitende Erstarkung der menschlichen Verstandeskräfte, die auf allen Gebieten menschlichen Wissens in den letzten Dezennien ungeahnte und unerhörte Erfolge gezeitigt hat, läßt es wohl begreifen, daß auch die Gesangspädagogik immer mehr darum bemüht ist, den Schleier zu lüften, und das Dunkel zu erhellen, das über ihr Tätigkeitsgebiet gebreitet zu sein scheint. Alle diese Bemühungen, soweit sie ernst genommen werden können, führen immer wieder zur Erkenntnis, daß auf diesem Gebiete weder die bloße naturwissenschaftliche Forschung, noch auch die künstlerisch intuitive Empirik allein zum Ziele führen können; nur eine restlose Synthese beider in der Person des Pädagogen selbst ist imstande, einen wirklichen Fortschritt zu bewirken.
Eine solche glückliche Synthese scheint in ganz hervorragendem Maße gegeben zu sein in der Persönlichkeit des Dr. med. Jean Nadolowitsch aus Berlin, der kürzlich durch drei Vorträge, die im Rahmen der gesangspädagogisch interessierten Kreise Wiens gehalten wurden, berechtigtes sensationelles Aufsehen hervorgerufen hat.

Nadolowitsch ist vor allem Künstler und somit ein mit intuitiver Begabung begnadeter Mensch. Ursprünglich Opernsänger, hat er im Alter von 40 Jahren seinen Doktor med. „summa cum laude“ gemacht und damit seinen wissenschaftlichen Befähigungsnachweis erbracht. Ein ganzes Menschenleben hat er der stimmbildnerischen Forschung gewidmet; überall in der Welt, im Norden und im Süden, hat er Sänger und Pädagogen besucht und ihnen ihre bewußten und unbewußten Praktiken und Erkenntnisse abgelauscht. Er leitet gegenwärtig in Berlin ein von ihm gegründetes, gesangsphysiologisches Institut und korrigiert Stimmen. Was er bei solchen „Stimmkorrekturen“, die er auch hier in Wien zeigte, leistet, das grenzt manchmal geradezu an Zauberei.

Durch langjährige vergleichende Beobachtungen im Tierreiche und an den menschlichen Rassen und Individuen ist es Nadolowitsch gelungen, gewisse typische anatomische Symptome zu finden, welche der natürlichen Stimmlage zugeordnet werden können. Auf diese Weise ist es mit einiger Übung möglich, bereits aus den Relationen des Körperbaues auf die Stimmlage eines Menschen zu schließen.
Die Probe auf das Exempel hat Nadolowitsch durch zahlreiche „Diagnosen“ an ihm gänzlich fremden Menschen aus dem Zuhörerkreise erbracht. Die Richtigkeit und Brauchbarkeit solcher Diagnosen kann somit wohl als erwiesen gelten.
Nadolowitsch forscht durch seine große intuitive Begabung und findet wie jeder genial Veranlagte neue Wahrheiten. Er kann durch seine Forschungen vielleicht den Nachweis liefern, daß so manche Hypothese unserer rein materialistisch orientierten Wissenschaft unrichtig ist. Beweiskräftig auch für diese Wissenschaft wird jedoch stets nur seine nicht wegzuleugnende Tat sein.

Im zweiten Vortrage sprach Nadolowitsch über seine „Atemtypenlehre“. Aus der Beobachtung des Menschen in verschiedenen Körperlagen und bei verschiedenen körperlichen Tätigkeiten ergeben sich in der Hauptsache vier prinzipielle „Atemstufen“. Bei der ersten Stufe, der liegenden Lage entsprechend, ist nur das Zwerchfell tätig. Der zweiten Stufe entspricht die Körperhaltung, welche der Mensch einnimmt, wenn er sich im Bette aufrichtet, die Rückenatmung, die typische Haltung alter Leute, mit nach vorne gebeugtem Oberkörper. Bei dieser Stufe arbeiten hauptsächlich die rückwärtigen Partien der Lunge. Der dritten Stufe entspricht die stehende Körperhaltung mit vorgewölbter Brust. Und zuletzt die vierte Stufe, die sogenannte „Notatmung“, im letzten Momente einer großen physischen Leistung, wo alles herhalten muß, was es an Atemmuskeln gibt. Diese vier Atemstufen entsprechen bestimmten Arten der Phonation. So erleichtert die erste Stufe das Hervorbringen tiefer Töne, die Tendenz zum „Sinken“ tritt ein. Die zweite Stufe begünstigt die Heranziehung der Kopfresonanz, eignet sich also auch besonders zur Erzielung freischweben-der Pianotöne u. s. f.

Nadolowitsch gehorcht einem philosophischen Grundsatze, der nur im Vorhandensein polarischer Gegensätze die Möglichkeit des Lebens erkennt, wenn er seine vier Atemstufen „antagonistisch“ verwendet. Der Antagonismus ist die Grundlage des Lebens und die Grundlage aller Kunst: Keine Liebe ohne Haß, keine Stärke ohne Schwäche, kein Piano ohne Forte u. dgl. Die antagonistische Verwendung der Atemstufen und die dadurch bewirkte fortwährende Veränderung der sogenannten „Stütze“ scheint mir für die gesangspädagogische Praxis von ganz besonderem Werte zu sein. Die bewußte willkürliche Einwirkung auf die Tonqualität, welche dadurch möglich wird, ist außerordentlich groß und bereichert die denkenden Stimmbildner um ein pädagogisches Hilfsmittel von ganz besonderer Wirksamkeit. Im dritten Vortrage sprach Nadolowitsch über sein „physiologisch-pädagogisches Lautsystem“. Ein ganz außerordentlich feines Gehörvermögen, verbunden mit einer gründlichen Kenntnis der anatomisch-physiologischen Verhältnisse haben es ihm ermöglicht, für die einzelnen Sprachlaute die korrespondierenden Resonanzfaktoren fast eindeutig zu finden.

Entsprechend diesen resonatorischen Verhältnissen teilt Nadolowitsch den gesamten Resonanzraum des menschlichen Körpers in vier „Ebenen“, denen die entsprechenden Laute zugeordnet werden. Die von denkenden Pädagogen gerne geübte Praxis, durch dem Schüler aufgegebene lautliche Veränderungen eine bessere Resonanzierung des Tones zu erzielen, wird hier ganz bewußt und detailliert ermöglicht, und damit werden abermals die Hilfsmittel der modernen Stimmbildung außerordentlich bereichert.
Nadolowitsch hat im Anschlusse an seine Vorträge stets praktisch demonstriert; er hat bei sich zu Hause und auf der Klinik des Dozenten Dr. Stern an vielen Beispielen den praktischen Wert seiner Erkenntnisse erwiesen, und es war oft verblüffend, den realen Erfolg zu sehen und zu hören, den er mit seinen Stimmkorrekturen hatte. Die Vertreter der offiziellen Wissenschaft, die Dozenten Dr. Fröschels und Dr. Stern, mußten diesen realen Beweis gelten lassen.
Alles, was Nadolowitsch kann, das verdankt er seiner ungeheuren Intuition. Seine wissenschaftlichen Kenntnisse, die wohl bedeutende sind, dienen weniger dem Forschen als der versuchten Erklärung des Erforschten, und so ist er, wohl unbewußt, ein lebendiger Beweis für den physisch-metaphysischen Doppelcharakter, dem die stimmbildnerische Forschung Rechnung tragen muß. Nadolowitsch braucht, wie alles Geniale, keinen Beweis im naturwissenschaftlichen Sinne zu erbringen; er ist ein Mann der Tat, und seine Taten sind bereits Beweise.

Die Gesangspädagogen, welche diese interessante Persönlichkeit kennen gelernt haben, verdanken ihr eine Summe von wertvollen und geradezu sensationellen Erkenntnissen und die Möglichkeit zu einer unerhörten Intensivierung und Rationalisierung ihrer eigenen Arbeit.

Hofrat KARL RÖSSEL-MAYDAN
Professor an der „Akademie für Musik“ in Wien
( Berlin 1950 )